Die Plakate sind selbstgemalt. Viele haben ihre Kinder mitgebracht, einige ihre Hunde. Rollstühle begleiten den Protestzug, den eine kleine Kapelle mit Dudelsäcken, Trommlern und Flöten anführt. Der Marsch am Sonntag durch die Innenstadt von Palma gleicht einem abendlichen Spaziergang von Freunden. Selbst die Touristen am Straßenrand applaudieren. Viele wissen gar nicht, dass es auf der bisher größten Demonstration gegen den Massentourismus auch um sie geht. Familiär und friedlich verläuft der zweite Großprotest.
Dem Aufruf „Canviem el rumb“ (Lasst uns die Richtung ändern)“ waren trotz Ferien und Sommerhitze nach Angaben der Veranstalter 50.000 Menschen gefolgt. Ende Mai waren es noch halb so viele. Beide Male hatten die Behörden deutlich niedrigere Zahlen genannt, am Sonntag zunächst von 12.000, dann von 20.000 Demonstranten gesprochen. Seit dem Frühjahr haben sich der neuen Plattform mit dem programmatischen Namen „Menys turisme, més vida“ (Weniger Tourismus, mehr Leben) mehr als hundert Gruppen auf den vier Hauptinseln angeschlossen.
„Raus aus dem EM-Finale, raus hier“
„Dem Tourismus Grenzen setzen“ lautete die Hauptforderung auf dem Plakat, das zur Demonstration eingeladen hatte und illustriert, wie sich offenbar viele fühlen: Ein bedrohlicher Schwarm von Passagierflugzeugen, Privatjets, Kreuzfahrschiffen und Luxusjachten kreist um die kleine Insel. Die Botschaften auf den Plakaten am Sonntag waren deutlich und mehrsprachig. „Enough is enough“, hieß es – und an Deutsche gerichtet: „Raus aus dem EM-Finale, raus hier“.
Eine Demonstrantin beschwerte sich auf ihrem Poster, dass Deutsche ihre Insel als 17. Bundesland bezeichnen: „Eine Beleidigung!“. Sie erzählt, dass es auf der Hauptstraße ihres Heimatdorfes auf der Insel inzwischen mehr Immobilienmakler als Bars gebe. Immer wieder geht es um die Wohnungsnot. „Wohnen ist ein Recht, kein Luxus“, „Jedes Airbnb bedeutet eine Familie ohne Wohnung“. Andere Demonstranten forderten, Kreuzfahrtschiffe und Privatflugzeuge zu verbieten.
„Die Kanaren haben ihre Grenzen“
Seit dem Frühjahr überrollt Spanien schon eine Protestwelle. Den Anfang machten Ende April die Kanarischen Inseln Ende April, auf denen 60.000 Einwohner mit dem Motto „Die Kanaren haben ihre Grenzen“ auf die Straßen gingen. In Málaga waren es später 25.000, in San Sebastián, Barcelona, Cádiz und Alicante Tausende. Auf den Balearen fühlen sich immer mehr der 1,2 Millionen Einwohner von den Urlaubern überrollt, von denen die meisten Mallorquiner zugleich leben.
Im vergangenen Jahr waren es fast 18 Millionen Besucher, 2024 wird das bisherige Rekordjahr auf dem Mittelmeer-Archipel übertreffen – bis zu 20 Millionen Urlauber werden auf den vier Baleareninseln erwartet. Bewusst hatten die Organisatoren den Termin mitten in der Hochsaison angesetzt, damit auch die Touristen mitbekommen, welche Folgen ihr Traumurlaub auf den Inseln für andere hat. Sie hoffen, dass durch die internationale Berichterstattung der Druck auf die einheimischen Politiker wächst.
Unterschiedliche Reaktionen der Urlauber
„Wir dachten, die Spanier sind froh, wenn wir kommen und hier unser Geld ausgeben“, sagt ein Urlauber aus Würzburg, die an der überfüllten Plaza d’Espanya vergeblich nach ihrem Bus an die Playa suchen. „Ich will niemand schaden. Wenn wir nicht mehr willkommen sind, reisen wir woanders hin. Spanien wird immer teurer“, meint ein Tourist aus Leeds. Zwei junge Deutsche machen sich lustig, fordern neben den Demonstranten niedrigere Döner-Preise und filmen sich dabei. Verlässliche Zahlen gibt es bisher nicht. Im Mai äußerte knapp ein Drittel der vom Meinungsforschungsinstitut Gadeso befragten 600 Urlauber die Ansicht, dass die Proteste nicht gerechtfertigt seien, da die Mallorquiner doch vom Tourismus lebten.
Viele Spruchbänder sind auf Mallorquinisch. Der neuen Plattform hat sich auch ein Verein angeschlossen, die sich für den Erhalt der Regionalsprache einsetzt. Unter den 111 Gruppen sind Umwelt- und Klimaschützer, Gewerkschaften, die „Kellys“, wie sie sich die Zimmermädchen nennen, Nachbarschaftsvereine, Antikapitalisten und Palästina-Aktivisten – und auch einige der neuen Nomaden, wie Javier. Er wohnt schon seit dem Ende der Pandemie in dem alten Wohnmobil am Stadtrand von Palma. „Ich arbeite den ganzen Sommer als Kellner an der Playa, aber konnte meine Miete nicht mehr bezahlen. So kann das auf der Insel nicht weitergehen.“
Die Mietpreise explodieren
„Las Kellys“ sind ebenfalls zahlreich vertreten. Der Name der Frauen kommt von „Las que limpian los hoteles“, was sich mit „die, die die Hotels sauber machen“ übersetzen lässt. Sie waren die Ersten, die sich schon vor der Pandemie in Spanien organisierten und dagegen protestierten, dass sie die Knochenarbeit leisten, die andere reich mache. „Wir freuen uns über den Tourismus. Er gibt uns Arbeit“, sagt Sara del Mar García, die Vorsitzende der balearischen Kellys, deren Zahl allein auf den Inseln auf 20.000 geschätzt wird. Aber die Mieten seien explodiert. „Von den 200, 300 Euro, die oft nur übrigbleiben, kann man nicht leben“, klagt sie. Ähnlich geht es längst nicht nur Saisonarbeitern, sondern auch Polizisten und Pflegerinnen, die am Sonntag mitmarschierten.
Von der konservativen Regionalregierung war niemand in der Nähe. Die Mahnungen des Regierungssprechers erwiesen sich als überflüssig: Die Demonstranten sollten die Touristen „respektieren“ und sie nicht bei ihrem Stadtbummel stören. Nur an den Schaufenstern einer Immobilienmakler waren in roter Farbe Slogans gegen Spekulation gesprayt, an ein paar Wänden „Guiris go home“ (Guiris werden in Spanien Ausländer aus nördlichen Ländern genannt). Bilder aus Barcelona, auf denen Demonstranten Urlauber mit Wasserpistolen beschossen und Restaurantterrassen mit Bändern absperrten, wie sie die Polizei verwendet, hatte Spanien und auch viele ausländische Touristen aufgeschreckt.
Regierungschefin Marga Prohens sagte der „Mallorca-Zeitung“, sie müsse sich am Sonntag um eine Kindereinladung zuhause kümmern, sagte die PP-Politikerin. Im Mai hatte sie zum ersten Mal eingestanden, dass die Balearen „an ein Limit“ gekommen seien. Dann setzte sie erst einmal eine Expertenkommission ein, der die Bürger ihre Vorschläge schicken können: zudem lässt sie neue Touristendaten erheben. In ihrem jüngsten Interview wiegelt sie eher ab und betont, dass es ihren Inseln ähnlich gehe wie Berlin und Rom: „wir alle sind immer wieder auch Urlauber“.
Damit geben sich die Demonstranten aber nicht zufrieden. Margalida Ramis, eine der Mitorganisatorinnen, spricht von einem „historischen“ Tag: „Das ist nicht der Höhepunkt einer Kampagne, sondern nur der Anfang.“ Die Mobilisierung werde weitergehen, sagt sie auf der Bühne auf dem Born-Boulevard. Mitten in der Hochsaison gehört er an diesem Abend den Einheimischen und es herrscht Volksfeststimmung.